Die Zeit der Raben I
Über den Untergang eines Zeitalters
Was sie erwartet:
Die ersten vierundsiebzig Tage des Untergangs. Es beginnt eigentlich mit etwas Alltäglichem, so wie vieles. Es verschwinden Menschen, aber das kommt vor. Aber diese Menschen kommen wieder und es sind nicht mehr die gleichen Personen wie vorher. Und schon ist Oberstleutnant Sid Green in wirklich üblen Schwierigkeiten. Natürlich will die Regierung die Gefahr nicht wahrhaben und reagiert viel zu spät. Überleben in Deutschland in einer Welt, die mitten in der Apokalypse steckt. Ein Deutschland, welches nur noch nördlich des Mittellandkanals existiert und täglich kleiner wird. Green, ehemals Division Spezielle Operationen, kämpft mit einer Handvoll Soldaten um die Zukunft. Der Kampf ist blutig und hart und weder dem Gegner noch ihm selbst wird irgendetwas geschenkt. Aber wer lässt sich von Untoten aufhalten? Oberstleutnant Green zumindest nicht.
Die Geschichte handelt von einem Offizier der ehemaligen Bundeswehr, der die Apokalypse miterlebt und versucht zu überleben. Ein unangepasster, politisch nicht besonders korrekter Veteran, der in der Nähe von Hameln lebt und seine Zuflucht zu einer Festung ausbaut. Er kümmert sich um Ressourcengewinnung, sucht Menschen und bringt sie in Sicherheit. Und natürlich erfüllt er die Aufträge einer Regierung, die wie üblich hoffnungslos überfordert agiert. Als letzter Überlebender des alten Kreis-Verbindungs-Kommandos, einer militärischen Unterstützungseinheit für den Landkreis im Katastrophenfall, sieht er, wie aus einer örtlich begrenzten Vorkommnis eine globale Katastrophe wird, ohne darauf reagieren zu können. Er erkennt die Mutationen der Infizierten und versucht…aber das sollten sie selbst lesen.
Leseprobe:
Tag 25, Freitag
Der Beginn des Tages war friedlich, freundlich, sommerlich warm, ohne heiß zu sein, ein Bilderbuchtag um Werbevideos zu drehen. Die Videos, die aber gedreht wurden, hatten mit Werbung nichts zu tun. Es war der Tag der Eskalation, würde ich sagen. Ich war gerade von der Arbeit zurück, es war Nachmittag, nicht so spät, die genaue Uhrzeit ist mir aber entfallen. Ich war aber etwas später zurück als sonst, weil ich noch eingekauft hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren YouTube und Instagram meine besten Nachrichtenquellen und eigentlich, dass muss man so feststellen, im Nachhinein, war das erschreckend. Nun glaubte ich nicht, dass jeder Film in den sozialen Netzwerken echt war, aber ich glaubte, dass ich die meisten Fälschungen erkennen würde. Schon, weil die Macher in der Regel nicht über das Equipment verfügen würden, welches die Herstellung eines Videos im Bereich Deep Fake ermöglichten. An diesem Tag gab es wieder eines der Videos, die schon in ihrer Form zutiefst erschrecken konnten. Es war der fünfundzwanzigste Tag, die Arbeit des Tages war vorbei, die Nahrungsmittel waren eingeordnet und ich hatte, während ich kochte, das Tablet an und sah diese Filmchen. Jedes dieser Videos war immer im Blair-Witch-Stil, was aber auch zu erwarten war. Wenn man vor einer Menschengruppe wegläuft, dann ist die Kameraeinstellung, die Kamerahaltung und ähnliches nicht der Schwerpunkt im Leben. Diesmal war es ein Film, angeblich oder nicht, der aus dem Untergrund einer Stadt stammen sollte. Es war nicht zu erkennen, aus welcher Stadt und es wurde auch nicht genannt. Es war nur auffällig, dass dieser Film etwa zehn Minuten bei YouTube zu sehen war, dann verschwand er spurlos. Ich habe etwa zwei oder drei Minuten von dem Film sehen können, dann brach die Übertragung ab und eine Fehlermeldung erschien mit dem Hinweis, das Video könnte wegen eines Softwarefehlers nicht mehr gestartet werden. Als ich es ein paar Minuten später erneut versuchte war das Video nicht mehr da, die Bezeichnung des Videos, also der individuelle Fingerabdruck, wenn man so will, war nicht vergeben. Es war klar, dieses Video war gelöscht worden. Ich sollte vielleicht erzählen, was auf dem Video, also in den zwei oder drei Minuten, die ich gesehen hatte, passiert ist. Also, Herkunft unbekannt, Ort des Geschehens, ebenso unbekannt. Protagonisten, eine junge Frau und ein junger Mann, beide vielleicht knapp über zwanzig. Sie ausnehmend hübsch, große Kriegsbemalung und so weiter. Schon an dieser Stelle, definitiv kein spontanes Video. Er, einer dieser typischen Männer dieser Zeit in einem Slimslim-Anzug und einer Frisur, die an ein räudiges Wiesel erinnerte. Schulterbreite…nun, wie gesagt, Wiesel. Die ersten vielleicht dreißig Sekunden bestanden aus intensivem Schäkern der beiden Protagonisten in einer U-Bahn-Station, vermutlich einer Großstadt mit so vielen so eindeutig nicht spontanen Gesten, dass sie vermutlich auf dem Weg zu mehr Followern waren. Ich weiß nicht mehr, was die beiden so erzählten, aber ich erinnere mich grob an irgendetwas zu ihren Besuch in der Stadt und dem tollen Hotel oder so. Es war vermutlich nicht wichtig, es ist mir aber nicht mehr gewahr. Im Hintergrund war eine Wand zu sehen, hinter den Schienen, in grauweißen Fliesen bis etwa drei Meter Höhe, grob geschätzt, dann, nach oben hin dunkelgraue Fliesen, meliert nennt man das vermutlich. Das Fahrzeug der U-Bahn gelb, Kanarienvogelgelb. Ich weiß nicht mehr, wo das war, deswegen beschreibe ich es so genau wie möglich. Die beiden schäkernden Protagonisten küssen sich, es ist ein Selfie-Film, es gab da einen Begriff dafür, der ist mir aber entfallen. Soweit, so unspektakulär und auch so uninteressant. Dann aber fährt dieser kanarienvogelgelbe Wagen ein und die Hölle bricht los. Ich glaube, dass dieser Film echt war, weil die Anzahl der Protagonisten nun von zwei plus vielleicht zwanzig auf dem Bahnsteig im Hintergrund, die Anzahl ist nur grob zu schätzen, sprunghaft auf mindestens zweihundert steigt. Auch das ist nur grob und sehr vorsichtig zu schätzen. Weil, als der Wagen hielt und die Türen sich öffneten, es ein bisschen so war, also würden sich die Türen zur Hölle öffnen. Hinter diesen Türen waren nur Befallene und das begriffen die beiden Protagonisten zuerst nicht. Sie lachten, amüsierten sich, erst miteinander, dann mit der Zombiepartie auf dem Bahnsteig. Daran glaubten sie in diesem Moment, dass sagten sie auch so. Dann konnte man erkennen, wie hinter dem Zug aus dem Tunnel weitere Befallende herausströmen und auch das waren viele, so viele, dass ein Ende nicht absehbar war. Die Frau schrie kurz danach, warum war nicht zu erkennen. Nächste Einstellung, die beiden rennen. Die Frau hatte das Handy wohl an einer Schnur um den Hals, zumindest filmt sie weiter nach vorne, während sie rennt. Der Mann in dem Slimslim-Outfit rennt vor ihr und ist schon fast zwanzig Meter weit weg. Wiesel halt. Die Frau bleibt stehen, bückt sich, vermutlich zieht sie die Schuhe aus und rennt dann weiter. Die Kameraperspektive hatte sich tatsächlich erkennbar geändert. Der Mann ist jetzt bereits nicht mehr zu sehen. Die Frau drehte sich um, hinter ihr, ein wildes Geraufe, Schreie voller Todesangst und sonst nur Befallende. Die Frau erreicht die Treppe, rennt hinauf. Man kommt zu diesem Zeitpunkt zu der Erkenntnis, das Mädel ist konditionell gut aufgestellt und hat eine Scheißangst, man hört ihre schnelle Atmung, weitere Schreie im Hintergrund und wie sie ein Gebet spricht. Dann erinnere ich mich noch, dreht sie sich noch zwei oder dreimal um, sie ruft nach einem Uwe, dann stolpert sie und fällt. Sie dreht sich um, halb liegend, die Kamera, also das Handy macht das mit, dann sieht man nur noch eine Gruppe von Befallenen kommen und das Video bricht ab. Wie gesagt, zwei oder drei Minuten, das Video war aber gut zehn Minuten lang. Der erste Eindruck war, fieser Horrorfilm, gute Special-Effekts, geiles Skript. Aber wenn es echt war, dann war da eine Stadt in wirklich üblen Schwierigkeiten. Das Video, wie gesagt, war nun weg. Aber es kamen weitere und sie waren alle unterschiedlich, aber auch gleich. Ein weiteres ist mir in Erinnerung geblieben. Ich versuche das aus der Erinnerung so gut wie möglich zu beschreiben. Eine Familie, offensichtlich Asiaten, gut gekleidet, freundliche Gesichter, sitzen an einem Tisch, vermutlich eine Eisdiele, es ist Abend, die Sonne ist untergegangen, es gibt eine Art Festbeleuchtung. Die Örtlichkeit ist deutsch, eine Großstadt, es sind hohe Häuser im Hintergrund zu erkennen, im Bereich davor Häuser aus der Gründerzeit mit Verzierungen u.a. Vielleicht eine Stadt im Bereich Bayern, ich dachte im ersten Moment an Nürnberg, aber wie gesagt, auch irgendwo anders in Bayern wäre möglich. Die Gruppe ist eine Familie mit klar erkennbarem Vater und Mutter, dazu vier Kinder. Eines der Kinder, es kommt kurz ins Bild, filmt sich kurz selbst, sagt etwas in ihrer Sprache, es klingt freundlich und eigentlich witzig. Dann filmte das Mädchen die lachende Gesichter der Familie die Eis schlecken, ein bisschen Faxen machen und den Hintergrund. Die Perspektive, das Kind mag vielleicht zwölf sein und ist nicht so groß, hat im Fokus die Familie. Der Hintergrund vor den Häusern sind flanierende Menschen. Dann rennt ein Mensch vorbei, aus dem Bereich von hinter den Eltern, der Läufer kommt also aus dem Bereich, den das Kind, filmt. Es sind zuerst Stimmen zu hören. Ich verstehe die Worte nicht, aber es wird gesprochen. Der Vater belehrt über etwas, das ist leicht zu erkennen, ein Kind links der Filmenden nickte sehr deutlich, den Mund und das halbe Gesicht voller Eis. Es ist nun wieder Geschrei zu hören, mehrere Läufer kommen nun aus der Richtung und es sind keine Sportler. Eine Frau in einem schicken Kleid rennt vorbei, knickt um und fällt, ein nachfolgender Läufer stolpert über sie. Geschrei, Gebrüll, der Vater und die Mutter drehen sich um. Offensichtlich verstehen sie nicht, was passiert. Der Vater sagt etwas und die Mutter antwortet, der Tonfall ist Ratlosigkeit. Jetzt laufen auf einmal mehr Leute vorbei, das Mädchen filmt, die Frau im blauen Kleid humpelt weiter, sie schreit etwas, was nicht zu verstehen ist. Der Kamerafocus schwenkt herum, in die ursprüngliche Richtung, und nun sieht man viel mehr Menschen und die sind eindeutig am Flüchten. Das Mädchen erhebt sich, geht einen oder zwei Schritte zur Seite, diesmal ein scharfer Kommentar des Vaters, klar zu hören aber auch nicht zu verstehen, und das Kind tritt wieder in den Schutz des Bereichs von Tischen und Stühlen zurück, filmt aber weiter. Von der Seite kommen nun vielen Menschen, die offensichtlich flüchten. Sie sehen nach hinten, laufen unangemessen schnell, stoßen sich gegenseitig zur Seite, brüllen, schreien. Worte sind nicht zu verstehen, aber die Angst in den Worten. Der Vater sagt wieder etwas, die Familie steht auf, der Vater nestelt an seiner Brieftasche. Die Kellnerin kommt, sie hat es offensichtlich eilig. Sie lehnt die Kreditkarte ab, was zu einem Disput führt. Der Vater mit der Kellnerin sind am linken Rand der Aufnahme zu erkennen, der Vater zeigt auf sein Portemonnaie und man darf hier interpretieren, er hat kein Bargeld, nur die Karte. Vermutlich war der arme Tropf das erste Mal in Deutschland und weiß nicht, dass wir hier bei vielen Dingen weit hinter dem Mond lebten. Im Focus der Aufnahme ist die Fußgängerzone, jetzt besser zu erkennen. Weit hinten, die Entfernung ist aufgrund des Fokus der Kamera nur schwer einzuschätzen, zeigt eine Menschengruppe. Es könnte sein, dass es sich hier um eine große Schlägerei handelt, so wirken die Bewegungen in der Ferne. Dann kommen die Menschen schnell näher und der Vater dreht sich um. Die Mutter gestikuliert wild, nimmt die Kinder, die Familie entfernt sich zügig. Das Mädchen filmt nach vorne, auch hier, die Kamera scheint um den Hals gehängt zu sein, und filmt damit die flüchtende Menschen. Einzelne Worte sind nun zu verstehen, aus dem Zusammenhang gerissene Worte, Wortfetzen, wieder Schreie. Das Mädchen dreht sich um, ein, zwei, dreimal, ein scharfes Kommando des Vaters, es läuft weiter. Aber bei diesem Umdrehen war etwas zu sehen. Einer Flutwelle gleich strömen Menschen durch die Fußgängerzone. Aber das sind keine Menschen, das sind Befallene, klar zu erkennen, auf den letzten Metern, bis das Mädchen fällt, dann vom Vater hochgerissen wird. Das Handy bleibt zurück und filmt nach oben, dabei auch die Flucht der Familie. Dann zeigt es einen Befallenen nach dem anderen, der vorbeikommt. Dann tritt etwas auf die Kamera, das Handybild verlöscht. Ich bin ziemlich schockiert. Ich sehe mir Horrorfilme nicht an, bin also nur beschränkt auf dem Laufenden, was Tricktechnik in diesem Bereich angeht. Aber das ist schon verdammt überzeugend und ich denke, einen richtigen Deep – Fake oder eine richtig gute Umsetzung eines solchen Skripts macht man nicht für YouTube. Ja, ich weiß, es gab wirklich tolle Filme auf YouTube, ich erinnere mich an Harmen Hoek, einen Langstreckenwanderer und einen filmischen Superstar, aber trotzdem, ich konnte mir nicht vorstellen, dass in so kurzer Zeit, so gute Fakes produziert werden konnten. Also, es blieb nur ein einfacher Rückschluss. Es war kein Fake und das musste Sorgen machen. Die Filme zu Ende, meine Schnitzel angebrannt, die Kartoffeln noch roh. Ich fluchte, nicht einmal das Essen funktionierte. Auf dem Bildschirm, ich hatte mich von dem gesehenen noch nicht erholt, erschien eine Ankündigung, die Regierung wünschte die Aufmerksamkeit des Volkes. Keine halbe Stunde später, ich weiß noch, es war genau 17:00 Uhr, trat der Bundeskanzler vor die Presse.
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Tag 60, Freitag, der Tag vor dem ersten Feldzug. Sonniger Tag
Ich beschreibe das heute so, weil ich es heute so empfinde. Damals eher nicht, glaube ich, ich bin mir nicht mehr sicher. Aber dieser Einsatz, eine ganze Kaserne zu übernehmen, kurzfristig, also die wesentlichen Teile des Fuhrparks einer Brigade zu übernehmen, das war schon etwas Großes. Etwas richtig Großes mit viel Einsatz und noch mehr Planung. Und es war ein Tag, der so viel Fiasko enthielt, so viele Situationen, in denen ich blitzschnell reagieren musste, ohne mir wesentlich Gedanken zu machen, dass vieles nicht gut abgespeichert wurde. Ich versuche trotzdem die Lücken zu minimieren. Es war ein Tag mit unglaublich vielen Eindrücken, ein paar Positiv, eine Menge sehr negativ. Ich glaube, es war der Tag, an dem ein wirklicher Widerstand entstand. Bis zu dem Tag haben wir versucht zu überleben, ab diesem Tag haben wir versucht zurückzuschlagen. Wir sind morgens aufgestanden, recht früh, gegen fünf, konnten beide, nein eigentlich alle drei nicht schlafen. Die beiden Damen und ich frühstückten gemeinsam ganz in Ruhe. Ich frühstücke eher selten, an diesem Tag, als wäre es eine Henkersmahlzeit, war es mehr. Sonst, es war alles vorbereitet. Ich hatte noch ein paar Ausrüstungsgegenstände auf die Ladefläche gepackt, wer konnte schon wissen, ob man es brauchen konnte und um sechs Uhr waren wir auf dem Weg. Die Fahrstrecke hatte ich vorbereitet und zuerst wollte ich Hameln erreichen, mir ansehen, was dort, im Nachgang zu dem letzten Besuch, passiert war und ob eine Änderung erkennbar war. Kein großes Gewese, nur ein kurzer Besuch, ein Eindruck verschaffen, so etwas in der Art. Keine Viertelstunde nach dem Frühstück standen wir neben dem Auto. Iris öffnete das Tor und schloss es nach mir wieder. Dann folgten wir den Wegen durch den Wald an Diekholzen vorbei nach Norden. Die Fahrstrecke war leicht zu finden und ich hielt nur kurz am Conradi – Turm. Ich wusste nicht, wofür es diesen Turm gab, und es war mir auch egal. Aber ich klebte einen in Folie gepackten Zettel daran, in nordwestlicher Richtung, weil dort der Waldrand lag. Darauf stand, „Hilfe ist nah. Folge dem Wald bis zum Fernsehturm. Nahrung, Wasser und Unterkunft möglich.“ Der nächste Halt war auf dem Randweg, der L480, direkt nordwestlich des Conradi-Turms. Hier nahm ich den Eimer mit Farbe von der Ladefläche und pinselte einen großen weißen Pfeil auf den Weg, der direkt in den Wald zu dem kleinen Steinturm wies. Noch deutlicher wäre kaum möglich, dachte ich. Wir fuhren dann auf der B1 Richtung Westen. Die nächsten Dörfer waren unproblematisch, wenige Infizierte zu sehen. Ich hatte vermutet, dass viele Infizierte vor allem aus dem Bereich südlich von Hildesheim mit dem großen Zug, der noch immer nicht wiedergefundenen großen Gruppe, nach Norden gezogen waren. Das es gewissermaßen eine Art Anziehung gab. Nichts Metaphysisches, geheimnisvolles, vermutlich einfach das Geräusch, welches eine so große Gruppe von Individuen, wenn es denn welche waren, so machten. Die Füße auf dem Boden, das ist ein Geräusch, vor allem, wenn es vielleicht hunderttausend Füße sind. Es zog die Infizierten aus der Umgebung an und auch die machten dann, wenn sie unterwegs waren, wieder Geräusche, die wieder andere anlockten. So vermutete ich das. Aber bis Burgstemmen oder Elze konnten die Geräusche unmöglich zu hören gewesen sein, die Begründung passte nicht. In Elze war ich mit Frieda schon gewesen, die Fahrstrecke war leicht zu fahren, nahezu keine Infizierten in Straßennähe und die Straße war schnell zu fahren. Ein besonderer Vorteil bei diesen Straßen war, dass man auch, im Zweifelsfall, den Motor ausmachen konnte. War man schnell genug, das Auto rollte dann einfach weiter, bis man an einem Gefahrenpunkt vorbei war. Bremsen war dann schwierig, der Bremsdruck reichte vielleicht für ein oder zwei Mal leicht bremsen, aber hier waren auch nur noch wenige der alten Männer mit Zigarre und Hut unterwegs, die einfach so mal bremsten oder ohne Blinken abbogen. Hier, in Elze, nicht nötig, alles unproblematisch. Im Bereich nördlich der Straße, kurz vor dem Ortsausgang, hatte es gebrannt. Ich bemerkte, dass es kräftig nach Feuer roch, aber nirgendwo Rauch zu sehen war. Das Feuer war wahrscheinlich ausgebrannt, aber noch nicht lange aus. Ein Blick über den Nordteil der Stadt zeigte mir, dass einige Häuserzeilen, vermutlich waren es Reihenhäuser gewesen, ausgebrannt waren. Dort stiegen noch feine Rauchfäden auf. Ich wunderte mich, warum ich im Turm davon nichts mitbekommen hatte. Aber vielleicht waren die Häuser tagsüber abgebrannt, vielleicht als wir unterwegs waren. Auch die nächsten Dörfer waren unproblematisch, es war ein fast wolkenloser Tag mit langen sonnigen Abschnitten und ich erwartete unserer kühlen Freunde nicht draußen anzutreffen, nicht in größerer Anzahl zumindest. Die Randbezirke von Hameln erreichten wir gegen Nullsiebendreißig. Ich fuhr besonders vorsichtig ab kurz vor Afferde, dem südöstlichen Ende von Hameln. Die Straße war hier breit genug für ein Zügiges durchfahren, leider standen auch immer Autos an der Straße und die Häuser waren dicht an der Straße gebaut. Das war sofort zu bemerken. Der Lärm des Autos wurde auch nach vorne getragen, lief gewissermaßen durch diesen Schallkanal aus Häusern, was sofort die kalte Kumpels auf den Plan rief, an denen wir aber vorbei waren, bevor es eng wurde. Wieder, hier war auch Sonne, aber auch der Schatten der Häuser und der Schwerpunkt der Angriffe kam immer aus dem Schatten. Sie konnten mittlerweile durch die Sonne laufen, aber sie mochten sie ganz offensichtlich nicht. Dann hörte ich den ersten Schrei, rechts, auf Höhe des Nagelstudios. Sagte man damals so, glaube ich. Da stand etwas, was direkt aus der Hölle gekommen war, direkt an der Straße. Der Inhalt verrottet, aber der künstliche Teil war noch da. Titten wie Honigmelonen, die das Kleidchen noch immer prall ausfüllten, die braunen, nun dünngeschrumpften Beine sahen unten heraus. Auf dem fast skelettiert wirkenden Kopf saß noch die blonde Perücke und, ich sah es beim Vorbeifahren, sogar die Lashes waren noch dran. Für die nicht Eingeweihten, so nannte man diese falschen Wimpern, die manchmal so groß waren wie kleine Vogelflügel, besonders bei dem Klientel, welches man in diesem Bereich oft antraf. Dieses Exemplar trug so etwas und der Anblick war unbeschreiblich. Fast skelettierter Kopf, blonde Perücke, Lashes. Faszinierend, aber schön war anderes. Faszinierend war, wie cool Iris mittlerweile blieb. Sie sah zu mir, lässig im Sitz fläzend, die neun Millimeter im Halfter, und fragte.
„Stehst du eigentlich auf solche Lashes?“ Ich grinste sie an.
„Im Moment eher nicht.“ Dann lachten wir beide. Der Schrei war weitergegeben worden und auf Höhe des Energy Gyms kamen nun von der Seite ein paar Gestalten, bei denen schon im Leben das Motto „weniger ist mehr“ sicher gut gewesen wäre. Wir rauschten vorbei und ich hörte den nächsten Schrei schon auf der linken Seite. Auf dem Parkplatz beim Aldi hatten sich einige versammelt, vielleicht hundert, wie ein Empfangskomitee, aber sie waren nicht schnell genug. Dann näherten wir uns der Unterführung, ich fuhr jetzt vorsichtiger. Aus den Straßen links, Süden, kamen überall Infizierte, teilweise in kleinen Gruppen, die aber aufgrund unserer Geschwindigkeit auch keine Gefahr darstellen. Es gab dort eine Menge Häuser, eher große und eher nicht die Oberschicht, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Wir waren nun dicht am Stadtkern und Geschwindigkeit war Überleben. Die Unterführung, dann links, wir rauschten durch die Stadt. Ich fuhr gerade an der Aral Tankstelle vorbei, als ich sah, dass der ganze Bürgergarten voll war mit Infizierten. Das mussten viele hundert sein und die drehten sich gerade in unsere Richtung. Kennen sie so Träume, wo sie unterwegs sind und auf einmal bemerken, sie sind splitterfasernackt? So kommt man sich in einer solchen Situation vor. Sie fahren an einer riesigen Gruppe von Menschen vorbei und alles, wirklich alles dreht sich in ihre Richtung. Das war vermutlich als würden sie mit einem Fahrzeug mit AfD – Werbebanner durch Berlin fahren. Ich fuhr an der Kreuzung nach links, bloß weg von der Gruppe, als sich auch dort der Schrei fortsetzte. Ich hatte eine verrückte Idee, die funktionieren konnte, wenn ich schnell war. Ich trat auf das Bremspedal, riss den Navarra herum, und gab Gas. Die Infizierten kamen gerade aus dem Bürgergarten, am Radio – Aktiv Gebäude vorbei. Die Schnellen hatten die Straße schon erreicht. Ich blieb links, auf der Gegenspur und schaffte es so gerade vorbei. Wir fuhren nun den nördlichen Teil des Rings. Nun war auf beiden Seiten der Schrei zu hören. Also nach Süden hin und hier am nördlichen Ring.
„Warum hast du das gemacht?“ Fragte Iris von der Seite mit diesem etwas zweifelnden Blick.
„Hab gedacht, ich mach mal Ärger.“ Sie schmunzelte.
„Das ist ohnehin so deins, oder?“ Dem war nicht viel hinzuzufügen.
Ich hatte tatsächlich etwas erreicht, dass konnte ich sehen, als ich an den Straßen Richtung Stadtkern vorbeifuhr. Es gab Gruppen, die waren in Richtung Norden unterwegs und scheinbar auch Gruppen Richtung Süden. Ich fuhr gerade an der Emmernstraße vorbei als ich mich eine Handvoll von ihnen, die anders als die anderen im Bereich der Parkplätze herumlungerten, erkannten oder wahrnahmen. Die standen nur da, wie Beobachter. Und wie ein Mann drehten die sich zu dem fahrenden Fahrzeug und dann schrien sie. Diese schreiende Gruppe war noch viel furchtbarer als einer der Einzelnen und ich sah diese Gesichter und hatte das Gefühl, das Maul, der Mund, ging bei ihnen viel weiter auf als bei einem lebendigen Menschen, als würden sie den Unterkiefer gewissermaßen aushängen. Dieser Schrei beendete das Chaos der nach Norden und Süden marschierenden Infizierten sofort. Dort, wo ich es sehen konnte, wandten sich die Gesichter sofort uns zu und genauso sofort rannten die Infizierten los. Eine Straße weiter sah ich wie deutlich mehr von Ihnen aus den Eingängen strömten, in ihrem abgehackten, umgelenkten Gang, und versuchten unseren Weg zu versperren. Sie waren schnell unterwegs, sie waren schneller unterwegs als viele andere. Als hätte man ihnen gerade Adrenalin gespritzt oder Speed. Ich drückte ein bisschen mehr aufs Gas, richtig, beim Navarra bringt alles unter kräftig treten keine Änderung, drückte also deutlich mehr und schoss die Straße entlang. Die Schreie wurden nun deutlich mehr und lauter. Ich zischte Iris zu, Fenster auf. Ich musste hören, wo die Schreie noch waren. Da, ich hörte sie schon vor mir, dass war ein schlechtes Zeichen, denn vor mir war die Brücke über die Weser. Der Schrei, den ich gerade gehört hatte, der war noch vor der Weser gewesen, der nächste, und da war er schon, der war deutlich leiser, der war vielleicht schon von drüben. So schnell würde ich aber nicht über die Brücke kommen. Hinter mir waren schon die Horden, vor mir wusste ich es nicht. Ich gab Gas, rutsche an einer Gruppe vorbei, die vom Saint-Maur-Platz kamen und war auf der Brücke. Dahinter, im Bereich der Hochstraße, fuhr ich nach Süden, als ich nach zweihundert Metern sah, dass viele hundert die Hochstraße aus Richtung Fort Luise hinaufkamen und auch über die Auffahrt von der Klütstraße. Leise fluchend zog ich das Auto nach links rüber, bremste und wendete in einem Zug. Eine Brücke hat zwei Ausgänge. Ich gab wieder Gas, wieder in Richtung Innenstadt. Aber diesmal war ich in echten Schwierigkeiten. Sie kamen mir auch dort schon entgegen, aus Richtung der Domeierstraße und aus Richtung der Thietorstraße. Das waren nicht die Gleichen wie vom Bürgergarten, aber trotzdem, durchstoßen, unmöglich, zu viele. Ich dachte kurz nach, während ich schon bremste und das Auto wieder herumriss. Eine Stelle gab es vielleicht noch, sonst würde wir springen und schwimmen müssen. Wieder Vollgas, wieder über die Brücke, wieder auf der Hochstraße nach Süden. Da, die Infizierten waren nun schon auf Höhe Klütstraße. Die schnellen schon auf Höhe Breiter-Weg, der eigentlichen Abfahrt rechts, und Torbayufer, von Süden kommend auf der Hochstraße selbst. Aber links war die eigentlich Auffahrt auf die Hochstraße und dort waren sie noch nicht. Ich heizte dort hinunter, viel Schwung, letzte Chance. Von rechts, von unter der Hochstraße, kamen ein paar, wollten mich aufhalten. Einer, ein zweiter und dritter wurden vom rechten Kotflügel erwischt und sie flogen zur Seite, dann riss ich das Auto nach links und war auf der zweiten Brücke Richtung Osten. Wieder hörte ich einen Schrei, diesmal von hinter mir. Der nächste vor mir erst, als ich das andere Ufer schon erreicht hatte. Wir hatten sie ausgetrickst, waren aber noch lange nicht in Sicherheit. Da war schon der nächste Schrei, von weiter vorne. Ich musste diese Infizierten verwirren, nicht so handeln, wie die es vielleicht erwarteten. Das war kein denken, bei ihnen, das war das Jagdverhalten eines Raubtieres, durchaus eines höher entwickelten, aber nur eine Jagdstrategie. Links rein, Papenstraße, die Reifen hinten radierten über den Asphalt, Vollgas, an der Schule vorbei, Pfortmühle und Busbahnhof, hier waren gerade extrem wenige Befallene. Klar, die waren jetzt vor mir auf der Brücke. Ich fuhr direkt nach links, direkt an die Promenade und gab wieder Gas. Die Promenade ist keine Fahrstrecke für Autos, sondern ein Weg zum Spazieren und Flanieren und auch zum Fahrradfahren. Gerade breit genug für ein Auto unterquerte ich die Brücke, auf der ich dicht gedrängt die Infizierten sehen konnte. Als ich unter der Brücke her rauschte klatschten hinter mir zwei, drei, vielleicht fünf Infizierte von oben fallend auf dem Boden auf. Als die Brücke hinter mir lag fielen auch auf dieser Seite noch ein paar hinunter. Ich war nun am Saint-Maur-Platz, an der Sana - Klinik. Ich blieb links vom Klinikum auf dem Wanderweg, der Promenade und hielt das Auto im Bereich der Kaffeeteria an. Kein Infizierter zu sehen. Leise brummelte der Diesel im Standgas. Da, wieder ein Schrei, weit hinter mir, vielleicht rechts hinter mir. Ein weiterer Schrei auch weit hinter mir. Gut, zurzeit wusste das Rudel nicht, wo wir waren. Im Standgas ließ ich den Navarra weiterrollen, dann ein Schrei links, ich ließ das Auto ausrollen, griff zum Feldstecher und sah über die Weser Richtung Campingplatz. Ich brauchte ein paar Sekunden, dann hatte ich hin. Da war der Schreihals, ich konnte ihn sehen, direkt an dem dortigen Imbiss. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie der mich wahrgenommen haben konnte, aber ich war auch kein Wissenschaftler. Ich griff hinter den Sitz des Navarra und nach dem Karabiner.
„Oben rauf, beobachten.“ Wies ich Iris an und sie war auf der Ladefläche, so schnell wie ein Schüler mit Dünnpfiff. Wir standen am Hubschrauberlandeplatz und Iris konnte so den rechten Bereich von vorne bis hinten gut überblicken. Keine lange Sichtstrecke, aber ausreichend, wenn der Motor an ist. Der Infizierte kam nun die Wiese hinunter Richtung Weser. Ich sah über Kimme und Korn, Entfernung einhundert, ließ den Kopf aufsitzen und schickte ihm den Gruß im Kaliber 7,5 mm. Ich musste nicht hinsehen und wusste schon beim Schuss, der lag.
„Sauber.“ Kam ein beeindrucktes Lob von oben.
„Auf hundert Meter keine Herausforderung. Um uns herum?“
„Noch nichts zu sehen.“
„Komm runter, wir hauen ab.“ Ich fuhr leise weiter, an der Jugendherberge vorbei. Die B83 lag nun direkt vor mir. Hier wollte ich nach Norden aus dem Ort heraus. Der nächste Schrei wieder hinter uns. Vorsichtig tastete ich mich auf die B83 Richtung Norden. Jetzt war die Fläche um uns herum nicht besser einzusehen, aber besser einzuschätzen. Die nächsten paar hundert Meter waren viele Hochhäuser, Wohngebiete für die sozial – Schwachen, nun vermutlich die Höhlen von tausenden Infizierten, auf der rechten Seite. Links nur Weserufer. Links war es jetzt so idyllisch, dass man die Katastrophe fast vergessen konnte. Ich gab Gas, weiter Richtung Norden, Richtung Hessisch Oldendorf und wir rasten aus Hameln hinaus. Es war kurz nach nullachthundert, ich war gebügelt und platt. Ich hatte gelernt, und das erkannten Iris und ich gleichermaßen, dass es hier eine gewisse Entwicklung gab, die auch komplexere Jagdstrategien, auch mit großen Gruppen ermöglichte. Es gab sogar eine Kommunikation, die mir, uns, aber so fremd war wie die Sprache jedes anderen nicht menschlichen Lebewesens. Sie mögen kein Japanisch verstehen, die Sprache, aber wenn beide Seiten guten Willens sind, ist trotzdem eine Verständigung möglich. Mit Händen und Füßen, vor allem aber auch mit Mimik, wir kennen das alle. Hier, mit diesen Rest-Menschen war das vermutlich anders. Iris schrieb das, was wir besprachen, auf, damit wir es nicht vergessen konnten. Ich hatte mir eine Strecke ausgesucht, die möglichst weit weg von den meisten Ortschaften verlief. Die B83 war damals eine gut ausgebaute Strecke und der Asphalt neu. Es gab einige Autos, die auf der Straße stehengelassen worden waren. Aber alle diese Hindernisse waren leicht zu umfahren. Bei zwei Autos sah ich die Toten, gefesselt mit ihren Anschnallgurten, zappeln. Ein Anblick, der meine Gedanken in einen Bereich drängte, den ich mir nicht erklären konnte. Was genau passierte mit einem dieser Untoten, wenn er dort für eine lange Zeit saß? Verhungerte er? Verdurste er? In einem geschlossenen Auto würde eine Leiche vertrocknen, mumifiziert werden. Immerhin war die Leiche tot. Ich hatte das Gefühl, meine Gehirnwindungen verknoteten sich, bei Gedanken dieser Art. Aber ich hatte gesehen, wie diese Irren Menschen angegriffen hatten. Ich hatte schon vorher ausreichend Leichenreste für mehr als ein Leben gesehen. Wo war der Unterschied zu denen, die ich früher, im Rahmen meiner Einsätze gesehen hatte? Die hatten sich nicht bewegt, ja, aber das war zu einfach. Und wer genau stand denn wieder auf? Nur die, die an dieser Krankheit gestorben waren? Was war mit den Leichen aus den Massengräbern in Srebrenica? Humpelten die jetzt ebenfalls herum? Und wie lange konnte so jemand herumhumpeln? Meinem Eindruck nach verwesten die Leichen doch trotzdem, sie zerfielen langsam weiter. Galt das für alle? Aber wenn das so war, dann durfte das Überleben der Menschen doch nur eine gewisse Zeit benötigen. Wir würden, wenn das stimmte, nur durchhalten müssen. Denn irgendwann würde auch der letzte rudimentäre Muskel verfault, die letzte Sehne gerissen und der letzte Knochen gebrochen sein und dann dürfte der Infizierte doch nicht mehr existieren, oder? Und wir wären wieder die Spitze der Nahrungskette. Wobei mir dabei immer die Frage einfällt, ob wir das je waren oder ob Viren und Bakterien nicht höher stehen als wir. Aber weg von der Philosophie. Schon jetzt war das, was ich erlebte mit Verstand und Logik nicht zu erklären. Die Körper waren tot, sie verfielen und trotzdem waren sie beweglich. Vielleicht war diese Grundannahme falsch. Vielleicht waren die nicht tot, sondern nur durch die Krankheit massiv verändert? Sie waren keine Menschen mehr, verhielten sich auch nicht menschlich, sondern anders. Aber die extreme Aggressivität, die ich bisher bei ihnen erlebt hatte, die äußerste Geringschätzung des menschlichen Lebens war keine Eigenart der Infizierten. Es waren durchaus menschliche Eigenschaften, wie ich aus meinen Erfahrungen wusste. Menschliche Eigenschaften, die nur durch das dünne Schild aus aufoktroyierter Moral und Zivilisation davon abgehalten wurden, den Menschen wieder zu dem werden zu lassen, was er früher war. Ein Jäger und Sammler oder ein Raubtier. Und oft genug hatten auch die Lebendigen den Bereich hinter diesem Schild verlassen um auch in zivilisierten Gegenden – von allen anderen kriegerischen Gegenden einmal abgesehen – einfach die Gesetze von Moral und Zivilisation, die Regeln des Zusammenlebens zu ignorieren. Da galt dann oft das Recht des Stärkeren. In letzter Konsequenz ist es immer eine Form von Anarchie. Erinnern wir uns an die vor der Katastrophe grassierende Form der Gruppenvergewaltigung, einer für mich besonders extremen Form der Ausübung von Gewalt, weil nicht einfach getötet wurde, sondern Menschen mutwillig vernichtet, zerstört wurden. Auch das, in Verbindung mit dem mangelhaften Schutz in unserem Land, eine Form der Anarchie. Aber wenn ich hier feststellte, dass die Infizierten über menschliche Eigenschaften verfügten, den negativen vor allem, dann stellte sich die Frage, ob wir falsche Grundannahmen hatten. Vielleicht war meine Annahme, dass es keine Menschen mehr wahren, auch falsch. Ich hatte Kinder – Junge von ihnen, war ich versucht zu sagen, um sie auf die Ebene von Tieren zu schieben – von ihnen getötet, als wir die Kleidung von Iris geholt hatten. Seitdem waren die Infizierten in Hameln erheblich rühriger, aggressiver, auch schneller. Vor allem aber aggressiver. Konnte das eine mit dem anderen Zusammenhängen? Auch dann stellte sich eine weitere Frage. Vielleicht verfügten die Infizierten nicht nur über die negativen Eigenschaften, sondern auch über die positiven, die für mich aber nicht zu erkennen waren. Schutz des eigenen Nachwuchses war schon eine positive Eigenschaft. Ich konnte jetzt darüber nachdenken, konnte das eine mit dem anderen Zusammenhängen oder dachte ich zu weit?
[....]
„Verdammt, bei ein Uhr, da hinten stehen Busse. Eine Menge Busse und auch Bundeswehrfahrzeuge.“ Ich merkte auf und kletterte hoch. Wir waren jetzt auf Höhe der Raststätte auf der Südseite. Hinter der Raststätte, Richtung Norden, und da standen die Bundeswehrbusse und Reisebusse und eine Menge davon und mir wurde in diesem Moment klar, woher die vielen Infizierten kamen. Es waren Evakuierte. Da waren Bundeswehr LKWs, sicher an die zwanzig, auch die zeigten die Spuren vom Personentransport. Die Ladeflächenluke war offen, bei ganz vielen LKWs und damit war klar, die Menschen waren abgestiegen und da standen sie auch, in Stase, aber auch in einer gewaltigen Anzahl. Dort war schlicht alles voll. Ich konnte jetzt über einen halben Kilometer nach Norden sehen und bis dorthin war alles voller Fahrzeuge, die meisten waren Busse und dazwischen die Infizierten. Dann gab es eine Art Sperre, nicht zu erkennen, was da passiert war, aber Busse standen da, einer nach dem anderen, teilweise zwei oder dreispurig. Davor schien die Autobahn völlig frei.
„Frenzen, Funk, Silberfuchs brauche ich.“ Schon hörte ich wie mein Funker anfing zu funken, während ich noch einmal durch den Winkelspiegel sah.
„Oberstleutnant, ich bekomme den Silberfuchs nicht, ich habe nur den Turm, ah, und Hühnerhabicht.“
„Ich nehm den Hühnerhabicht, gibt mir den auf den Funkkreis.“ Ein leiser Hinweis über die BV, Funk stand.
„Hühnerhabicht, hier Geier, kommen.“
„Hier Hühnerhabicht, kommen.“
„Hallo Peter, ich befinde mich hart südlich der Autobahnraststätte an der A7 Hildesheimer Börde. Kopplungspunkt eins überschritten. Hier scheint sich aber etwas zusammen zu brauen. Frage, wie war den die Evakuierungsstrecke aus dem Süden Richtung Hamburg, Frage, war das die A7, kommen.“ Eigentlich eine dumme Frage, die A7 war im weitem Umkreis die einzige Autobahn in Nord-Süd-Richtung.
„Korrekt, die A7. Aber die Menschen scheinen das im Süden nicht mehr erfahren zu haben. Es ist kaum jemand durchgekommen. Kommen.“
„Peter, ich glaube du liegst falsch,“ mittlerweile hatte ich die Turmsteuerung übernommen und drehte den Turm weiter nach hinten, „die Menschen haben die A7 genommen. Aber hier an der Raststätte scheint etwas passiert zu sein. Sie sind hier nicht weitergekommen. Warten sie.“ Ich unterbrach das Gespräch.
„Panzer halt.“ Wir blieben wieder stehen, still bis auf das Brummeln des Panzers. Ich hatte gesehen, dass eine weitere Gruppe sich zu uns gewendet hatte und ein paar waren schon ein oder zwei Schritte gegangen. Sie blieben nun stehen.
„Hinter uns kommen sie vom Parkplatz auf die Straße.“ Tormann ganz hinten mit dem Blick zurück. Ich drehte mich. Ja, die ersten strömten durch das dürre Holz vom Parkplatz auf unseren Weg und ich konnte nun sehen, dass ich nach Norden über die Straße von hier nicht wegkam. Üble Situation. Vielleicht blieben sie stehen, oder halt auch nicht.
„Turm zwölf Uhr. Leise.“ Der Turm drehte langsam nach vorne. Ich sah nun, dass auch eine Gruppe, die etwa auf Höhe des Bistros auf der anderen Seite stand, aufgemerkt hatte und uns ihre Aufmerksamkeit schenkte. Es sah immer so aus, als würden sie starr in unsere Richtung sehen, dabei war es wohl eher so, dass sie auf diese Weise die Schallwellen oder Vibrationen auffingen. Wir blieben wieder ohne Bewegung.
„Hühnerhabicht, hier Geier, kommen.“ Flüsterte ich ins Funkgerät. Die Antwort kam sofort und auch die Frage, ob wir uns den südlichen Teil, die südliche Sperre ansehen könnten, was ich verneinte und als derzeit unmöglich bezeichnete. Er teilte mir mit, dass noch am gleichen Tag eine Drohne die Situation prüfen würde. Das war schön, half mir jetzt aber nicht wirklich. Ich teilte mit, dass ich noch eine Weile brauchen würde, bis ich den zweiten Kopplungspunkt erreichen würde. Wenn überhaupt, hängte ich nicht an. Wir beendeten das Gespräch und ich sah düster wieder aus dem Turm. Es war ruhiger geworden, rechts von uns, dort standen eine Menge LKWs und dann begriff ich, was mir die ganze Zeit komisch vorgekommen war. Manchmal sieht man einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die LKWs waren nicht auf dem Weg nach Süden gewesen. Im unteren Bereich standen noch ein paar LKW, die auf dem Weg nach Süden gewesen waren und damit mit dem Führerhaus nach Süden standen. Die LKWs hier, rechts von uns, standen genau andersherum. Ich stand mit dem Fernglas da und sah mir alles ganz genau an. Da, da war die Stelle. Es war nicht auf der Höhe der Ausfahrt vom Parkplatz der Raststätte der Gegenseite, sondern etwas danach, Richtung Nordwesten. Dort war die Leitplanke weg. Da hatte jemand versucht die Sperre vorne zu umgehen und hatte damit das Chaos nur noch vergrößert. Wenn man genau hinsah, konnte man fast ablesen, was passiert war. Der erste LKW, der durch diese Lücke auf die falsche Seite der Autobahn gefahren war, hatte einen PKW direkt Platt gemacht. Der PKW musste mit hoher Geschwindigkeit direkt unter den Auflieger gerast sein. Von meiner Seite aus war nur ein demoliertes Heck zu erkennen. Wahrscheinlich war das der Grund, warum es dort gleich wieder zu einer Sperre gekommen war. Und warum das Chaos dann weiter Richtung Süden? Unerfindlich, nicht zu erkennen. Ein leises Knacken in der Bordverständigung.
„Die Infizierten scheinen sich etwas zu beruhigen.“ Trimbeck von vorne.
„Langsam weiter, ganz langsam.“ Trimbeck gab kaum Gas und der Panzer setzte sich nur sehr langsam in Bewegung.
„Da ist ein Waldweg…auf zwölf Uhr, etwas nach rechts.“ Kam es über die BV von Lipping. Ich nickte nach unten, als sie sah, dass sie hinaufblickte. Gutes Auge. Wir näherten uns langsam der Höhe der Tankstelle und das, was mir am meisten Sorgen machte, war, dass sich immer mehr zu uns umdrehten, so langsam wir auch waren. Ich hörte einen der Schreie, relativ weit weg, irgendwo im Bereich der Brücke, würde ich meinen, war aber nicht sicher. Dann ein zweiter Schrei, schon näher und dann sah ich, wie sich alle, wirklich alle, gleichzeitig zu uns umdrehten. Es war, als wäre es eine Choreographie, als gäbe es jemanden, der gerade einen Film drehte, und hinter uns, beim Regisseur und der Kamera stand nun ein Assistent und hob ein Schild,
„Panzer ansehen und böse kucken.“ Das Schild sah ich nicht, aber den Gesichtsausdruck schon. Vielleicht kommt einem das auch nur vor, wenn die alle in die eigene Richtung sehen. Die Gesichter, ich sah sie gerade im Fernglas, es war, als wären sie merkwürdig verzerrt. Das Bindegewebe gab vielleicht nach, was dazu führte, dass die Gesichter länger wirkten und die Zähne mehr freilagen, was einen abstoßenden und angstmachend Effekt hatte. Wir waren nun weniger als fünfzig Meter vor der Tankstelle, ich sah in Richtung vier und fünf Uhr und sah nun auch, dass eine ganze Menge hinter uns waren, direkt auf unserer Straße und weiterhin Zulauf bekamen. Das Rudel hetzte seine Beute schon, ließ aber den Abstand noch groß, um es in Sicherheit zu wiegen, fiel mir ein. Der Blick in die Gaststätte zeigte, vor jedem Fenster standen sie, warteten auf Fastfood und das sollten wir sein.
„Kommandant?“ Ich drehte mich zur Seite und sah, wie Lemmler nach Süden deutete. Wir würden nicht mehr auf diesem Weg zurückkommen. Auf keinen Fall, sie kamen nun von der Autobahn und direkt aus Süden. Irgendwo dort musste die Leitplanke offen sein oder jemand hatte Fastfood-Gutscheine für einen BigSid aus der Dose verteilt, mit allem und scharf. Sie wurden schneller und es war Zeit…jetzt ging es auch von rechts los, von denen, die auf unserer Höhe waren. Dann der nächste Schrei, direkt halbrechts und hätte ich Zeit gehabt, ich hätte den Schreihals vermutlich sehen können. Die Irren strömten vom Parkplatz noch südlich des Raststätten Gebäudes auf uns zu, von Norden, von Osten und es waren viele, aber es war nicht eine Gruppe. Sie verhielten sich anders, aber ich konnte nicht genau erklären, was genau anders war.
„BMK, Feuerbereitschaft herstellen. Ohne Lüfter.“ Dieses ostdeutsche Mädchen hatte es im Griff. Ich hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als es schon klackte, über mir.
„Trimbeck, los, gibt Gas, der Waldweg vor uns, da geht’s rein.“ Ich sah nur das Nicken vorne und spürte, wie der Motor Gas annahm, das reichte als Bestätigung lange aus. Auf der gesamten rechten Seite schien es, als würden…es waren mehrere Gruppen, die da auf dem Weg zu uns waren und das war sogar in der Abgrenzung zu erkennen. Hier gab es nämlich eine ganze Menge ehemaliger Soldaten, die kamen direkt von rechts vorne und eine Gruppe von Menschen, mit ähnlicher Kleidung, so eine Art Fankleidung in Rot, mit Mütze und Schal. Beide Gruppen vermischten sich nicht.
„Auf ein Uhr, große Gruppe.“ Frau Lipping mit etwas Panik in der Stimme über BV. Das war die Gruppe der Soldaten und Fans, die sich nicht vermischten, und die Fangruppe vermischte sich auch nicht mit denen, die rechts davon angriffen. Drei erkennbare Gruppen, die sich nicht vermischten, interessant. Die Gruppe auf ein Uhr mochte deutlich über hundert, eher zweihundert Irre umfassen, davon die Hälfte Uniformträger. Nun kam von vorne, direkt auf zwölf Uhr ebenfalls eine kleine Gruppe, die aber rasch größer wurde. Sie kamen über den Zubringer zur Raststätte und diese Gruppe hatte ich vorher überhaupt nicht gesehen.
„BMK, Achtung, Zwölf Uhr einhundert.“ Da mussten wir durch. Die Gruppe hörte überhaupt nicht mehr auf. Es mussten viele, viele hundert sein. Trimbeck gab Gas und der Panzer beschleunigte auch. Jetzt sofort links, zwischen die Bäume? Der Hang sah mir zu steil aus, da würden wir uns festfahren. Da war der Wanderweg, zumindest nach der Karte, direkt vor mir. Wir würden vielleicht so gerade durchrutschen.
„BMK fertig.“
„Trimbeck, zwischen den Bäumen, da ist ein Wanderweg, da müssen wir rein bevor uns die Irren erreichen. So kommen wir hier weg. Sonst wird es eng.“
„Keine Chance. Dann muss ich durch den Zaun. Der Weg ist mit einem Zaun von hier verschlossen. Zwischen den Bäumen her bekomme ich hin, aber durch den Zaun...Und wenn der Zaun in unserem Fahrwerk…“ Ich hatte den verdammten Zaun nicht gesehen und wenn ich ihn gesehen hatte, nicht wahrgenommen, nicht als Problem zumindest, nicht in dieser Situation. Ein Fehler, eindeutig.
„BMK Achtung, Feuer frei, räum den Weg frei.“ Der Lüfter fing an zu heulen, als ich die ersten drei Buchstaben ausgesprochen hatte, den Rest hörte niemand mehr. Die Sprengbrandmunition ist eine Brutalität, die für so etwas entwickelt wurde. Für das Zubereiten von Hackfleisch. Ich könnte das freundlicher und rücksichtsvoller formulieren, aber sie kennen mich mittlerweile, ich bringe das auf den Punkt. Ich will das deutlich formulieren. Denn es muss klar sein, solche Waffen sind immer für genau das erfunden und produziert und es ist dabei egal wer der Gegner ist. Hier jetzt ein Infizierter, sonst ein armes Schwein an der Front, genauso freiwillig und Schuld an dem Krieg wie jeder andere. Der erste Schuss, der erste Treffer, ließ zwei oder drei Infizierte als Gulasch auf die Straße niedergehen. Die nächsten zwei, drei Schuss, immer als schneller Einzelschuss, also gezielt, nicht als Feuerstoß geschossen, trafen die Infizierten oder den Boden. Bei Bodentreffern auf dem Beton fetzten die Splitter durch die Angreifer. Kein Mensch hätte das überlebt.
„Trimbeck, dann haben wir ein Problem, mit dem Scheißzaun, über das wir uns dann Gedanken machen. Mitten durch, marschmarsch.“ Und schon wurde das Gaspedal bis zum Bodenblech durchgedrückt. Brüllend beschleunigte der Marder noch einmal, scherrte aus und fräste sich wie ein Wildschwein auf Steroiden über die Wiese, fünfzig Meter, und nahm dann den Zaun auf die Hörner. Mir war in diesem Moment klar, wenn der Zaun über den Bug rutschte, würde er am Turm hängenbleiben und wir würden viel Zaun, viele Pfosten und viel Ärger mitschleppen und keine hundert Meter weiterkommen. Der Panzer würde den Zaun nicht zerreißen können, da war ich mir sicher. Würden wir über den Zaun drüberfahren, wäre es nicht besser. Der Zaun war der Standard-Maschendrahtzaun in Grün, tausend Jahre haltbar und hässlich, aber stabil, und damit definitiv eine Gefahr fürs Fahrwerk. Würde sich der Zaun in der Kette verfangen würden wir innerhalb von ein paar Metern stecken bleiben. Dann hätten wir nicht einmal hundert Meter.
„Gib Gas, Trimbeck und gerade über den Zaun.“ Der Panzer walzte sich über einen Bordstein, ohne dass das wesentlich zu merken war, einen flachen Graben und nahm Anlauf. Der metallene Zaunpfahl knickte sofort weg und das grüne Monster verschwand unter der Kette. Der Turm schwenkte nach hinten, Lipping dachte mit, klasse. Ich sah nach links hinten und konnte schon sehen, der Zaun wurde mitgeschleppt, er verfing sich also in der Kette. Ich fluchte wie ein Rohrspatz.
„Mehr Gas, wir haben ein Problem.“ Wenn Trimbeck in den letzten Sekunden vom Gas gegangen war, hatte ich es nicht gemerkt. Mit einem Knall wurde zuerst der Zaunpfahl links aus dem Boden gerissen, dies mitsamt dem massiven Betonklotz, der ihn im Boden verankert hatte, dann mit einem ähnlichen Krachen der Pfosten rechts. Der nächste Pfahl folgte und der Zaun wurde hinter uns hergezogen. Da er nach rechts, Fahrtrichtung, in unsere Richtung verlief, rissen wir ihn dort heraus und gleichzeitig warfen wir kleine Bäume um. Keine Chance, dass wir das schafften. Nicht bergauf, mit Zaun und den Infizierten am Heck. Der Panzer begann zu schlingern, die Kette rechts schien blockiert. Dann blockierte die Kette rechts ganz und der Panzer drehte sich um mehr als 90 Grad nach rechts, bremste und blieb stehen. Die Irren waren keine hundert Meter entfernt. Ich war aus dem Auto raus, bevor es ganz stand. Völlig ohne darüber nachzudenken, was ich da machte. Die Heckklappe rauschte herunter, Korbach sprang heraus wie ein Springteufel aus seiner Box, das G36 im Anschlag. Lemming, direkt hinter ihm.
„BOLZENSCHNEIDER, SCHNELL.“ Brüllte ich nach oben, Korbach wirbelte herum und griff nach links in einen der Stauräume. Dann dauerte es keine zwei Augenblicke und das Ding flog auf mich zu. Ich griff zu, fing es aus der Luft, steckte es zwischen die blockierte Kette und schnitt, was das Zeug hergab.
„HALTET SIE AUF ABSTAND.“ Brüllte ich, überflüssigerweise, denn die Männer waren schon dabei. Die Irren waren auf hundert Meter sah ich aus den Augenwinkeln und die setzten jetzt zum Sturm an.
„LIPPS, MG, FEUER.“ Brüllte ich und schon donnerte es über mir und ich hörte erst das Klingeln in meinen Ohren, dann das klassische Klirren der Hülse auf dem Panzer, als die leere zwanzig Millimeter Hülse rausfiel. Das war die Kanone gewesen, dann aber folgte ein langer Feuerstoß vom MG, ich konnte vor mir das Flackern der Leuchtspurmunition als Widerschein erkennen. Das MG ließ die Infizierten tanzen. Und wieder ein Feuerstoß, diesmal länger und ich hörte das Klirren der Hülsen und das Prasseln der Gurtteile des Zerfallgurtes auf dem Stahl des Panzers. Ein Blick in die Richtung der Infizierten gönnte ich mir nicht, ich hatte zu tun. Der Scheiß-Zaun hatte sich um die hintere Rolle gewickelt und war nun so stramm, dass ich kaum darankam.
„TRIMBECK, LANGSAM RÜCKWÄRTS!“ Der Panzer ruckte und rutschte langsam rückwärts, Kette rechts blockierte weiter, ruckte aber so weit, dass ich an den Draht kam. Ich brüllte halt, der Panzer hielt und wieder war da ein Feuerstoß über mir, dann das klassische Geräusch einer Störung. Das Turm MG ist eigentlich das klassische Maschinengewehr der Infanterie. Eine wirklich brutale und sehr gute Waffe. Die Ursprungsversion stammte noch aus dem zweiten Weltkrieg und war gefürchtet, es gab den Spitznamen „Hitlers-Säge“ nicht umsonst. Bis zu zwölfhundert Schuss in einer Minute sind eine kaum zu schlagenden Zahl für eine solche Waffe. Aber beim Marder war das MG in den Turm gesetzt worden. Die Mechanik war also für das MG entwickelt worden. Man hatte kein neues MG für den Turm gebaut, sondern das Alte adaptiert. Sicher eine billige Idee, leider keine Gute. Das MG hatte auf diese Weise dauern Störungen und schoss dann halt nicht. Nun kann man nicht in jeder Situation dann auf eine zwanzig Millimeter Kanone ausweichen, weil, zum Beispiel wie hier, der Feind einfach schon elendig nah war. Ich hörte das Fluchen der Richtschützin nicht, aber dann, wie sie umschaltete und dann begann Lipps mit den Armaturen zu spielen. Der Turm drehte sich um ein paar Grad, während er einen kurzen Feuerstoß abgab. Klirrende Hülsen prasselten auf den Panzer und hüpften mir entgegen. Ein weiterer Strang Zaun riß. Und wieder schneiden und schneiden und schneiden. Ein zweiter Feuerstoß, diesmal über mich hinweg. Im gleichen Augenblick hörte ich immer die Explosionen, wenn die Geschosse sich zerlegten und ihre Splitter in die Untoten jagten. Ich hörte das Feuern der G36 Sturmgewehre. Die Jungs schossen Einzelfeuer, versuchten also die Köpfe zu erwischen. Das Panzerheck war offen, Frenzen kniete auf der Heckklappe und schoss nun auch.
„KORBACH, ZU MIR, HALTET MIR DIE VOM LEIB.“ Brüllte ich nach rüber. Der Mann kam herum, ging in die Knie, direkt neben mir, und ich konnte sehen, dass er gerade ganz ruhig wurde. Der Mann war sonst eher ein bisschen hibbelig, neigte zu einer gewissen Form von Wut und Aufbrausen. Aber jetzt war er so still wie ein Patient der Klapsmühle auf Valium. Dann schoss er und Lemmler, auf der anderen Seite ebenfalls.
„TRIMBECK,“ brüllte ich, „LANGSAM VORFAHREN, ZENTIMETER FÜR ZENTIMETER.“ Ich hörte die Luke vorne aufschlagen und wiederholte den Befehl. Der Motor brüllte auf, der Panzer ruckelte aber nur ganz langsam vorwärts. Ich fand die Stellen, wo sich der Draht um den Antrieb gewunden hatte, und schnitt weiter. Über mir spuckte die Bordmaschinenkanone einen Schwung schneller Einzelschüsse. Hinter mir hörte ich das Donnern der Einschläge und das Pfeifen der Splitter. Einzelne hörte ich gegen die Bordwand klatschen. Wir waren verdammt zu dicht dran. Oben schoss jetzt noch jemand viertes mit dem Gewehr, Tormann vermutlich. Die nächsten Geschosse der Kanone erwischten mindesten zwei Bäume, die ich aus dem Augenwinkel fallen sah. Was eine kluge Idee, das Mädchen versuchte uns eine Sperre zu schießen. Eine Baum fiel tatsächlich in die richtige Richtung und für Augenblicke schienen die Infizierten aufgehalten zu sein. Ich war völlig konzentriert auf das Freischneiden der Kette, dass ich den Ruf von oben erst beim zweiten Mal verstand.
„LIPPS SCHIESST NICHT MEHR. DIE SIND ZU NAH.“ Ich fluchte vor mich hin. Das hieß, sie schoss nicht mehr, weil ich noch nicht fertig war. Jetzt konnte ich auch das Schreien, Stöhnen und Brüllen hören, ganz nah, viel zu nah. Die Männer wechselten Magazine und schossen, was die Waffen hergaben. Saubere Einzelschüsse und doch viel zu wenige. Ich hörte mittlerweile, wie die Köpfe platzten, bildete ich mir ein. Lipping sprang an Frenzen vorbei, kam herum, trat in den Tritt bei der Kettenschürze und war oben. Mit Schwung riss sie die schwere Wartungsklappe des Turms nach oben, bis sie einrastete und verschwand mit ihren Händen im Inneren des Turm. Die Jungs mit den Handwaffen schossen weiter und ich schnitt, was ich konnte. Korbach brüllte etwas und sprang in den Panzer. Ich hatte keine Zeit mich darum zu kümmern.
„LIPPS, DAS MG!“
„BRAUCHT NOCH!“ Brüllte sie zurück und ich hörte die Stimme dumpf, sie steckte halb in dem blöden Turm drin. Plötzlich hörte ich das Geräusch eines MG – Verschlusses, der gespannt wurde. Das Rischrisch ist ein Geräusch, wenn man das mal gehört hat, erkennt man das. Das erste Risch ist der Verschlussspannhebel, ich bin mir über den Namen nicht mehr ganz sicher, der nach hinten gezogen wird, dass bringt den Verschluss nach hinten und macht die Waffe Feuerbereit, und das zweite Risch bringt den Hebel wieder nach vorne. Ich hörte, wie der Deckel heruntergekloppt wurde, was passiert, wenn man die MG – Gurt, diesen Gurt, in dem die Munition gefasst ist, eingelegt hat. Dann muss man nur noch Entsichern und die Hölle entfesseln. Ich hatte beim Rischrisch schon begriffen, was da passierte. Ein Schützentrupp auf dem Schützenpanzer Marder hat schon ein Turm-MG dabei, eingebaut, wie angesprochen, aber so ein Trupp hat auch ein MG zum Mitnehmen dabei. Also sein MG-ToGo, wenn sie so wollen. Das MG für den abgesessenen Einsatz, so nennt sich das. Das macht aus dem Schützentrupp eine nicht zu unterschätzende Macht auf dem Schlachtfeld. Und hier hatte Korbach das MG aus der Halterung unter gerissen, das Zweibein ausgeklappt und das Ganze auf das Heck des Fahrzeugs gestellt. Nein, genau würde er mit dem Metallzweibein auf dem rutschigen Metallheck das Panzers nicht schießen, aber Scheiße, darauf kam es gerade nicht an. Und schon war da der erste Feuerstoß und wieder hörte ich das Prasseln und Klirren und sah den Widerschein der rotem Leuchtspurmunition. Die Infizierten waren nah, ich hörte die Einschläge der Geschosse in die Körper, aber das war gerade nicht wichtig, das Fahrwerk musste frei sein. Ich hörte oben, wie die Klappe der Turmlafette mit Schwung geschlossen wurde. Lipping sprang rechts von mir herunter, rollte einmal ab und war mit zwei Sprüngen im Panzer. Ich hörte sie lachen, kein Scherz, und ein paar Sekunden später prasselten die MG – Hülsen vom zweiten MG auf den Panzer, während eine lange Garbe 7,62mm Geschosse durch die Luft peitschten. Sie konnte nicht danebenschießen und da das MG vom Gewicht, bezogen auf den Panzerturm, eher ein Leichtgewicht ist, kann man damit durchaus sauber schießen. Vor allem wenn der Feind keine fünfzig Meter entfernt ist. Die Garbe durchschnitt die Luft in Kopfhöhe und zerriss Köpfe von Irren im Dutzend. Die Geschosse gingen dabei durch die fauligen Köpfe durch und trafen auf die dahinter stolpernde zweit, dritte und weitere Reihen. Auch hier war die Ernte reichhaltig und blutig. Garbe auf Garbe zerriss die Luft und die Körper. Lipps wechselte nach rechts, ließ Korbach den Bereich hinten, schoss auch hier in die Menge und ich schnitt, was ich konnte. Dann sah ich, wie Korbach direkt über mich hinweg schoss und dann sein MG nur klickte. Munition Ende. Ich sah die Augen und wusste, der Feind war nahe. Ich drehte mich blitzschnell um und riß dabei den großen Bolzenschneider hoch, schwang ihn herum und schlug ihn dem Irren hinter mir durch den Schädel. Korbach ließ das MG liegen und hatte schon wieder sein G36 in der Hand. Ich schlug dem nächsten die Knie weg und trat mit voller Wucht in ein Gesicht. Es war Zeit davonzulaufen. Dringend. Ich warf den Bolzenschneider hinauf, griff zu und geriet in diesem Moment fast in Panik. Wenn man sich am Panzer hochzieht, ist man, vielleicht für eine oder zwei Sekunden so verdammt wehrlos. Vor allem, wenn man da nicht mehr so schnell ist wie mit zwanzig. Aber da war Korbach und schoss wieder Geschoss auf Geschoss in hässliche Fratzen.
„REIN.“ Brüllte ich und die Männer sprangen auf die Heckklappe, dann hinein und die Luke brummte nach oben. Die Männer kamen nach oben aus ihre Luken heraus und schon wieder schossen sie, was die Gewehre hergaben. Ich hielt mich am Turm fest und brüllte hinunter.
„TRIMBECK, VERSUCHEN, GAS.“ Um mich herum gab es nur Irre, soweit ich sehen konnte, ein Meer aus verwesenden Leichen. Hunderte, Tausende, viele Tausende und sie waren nun direkt bei uns. Wie lange musste dieser Stau gewesen sein?